Erläuterung von Elsbeth Arlt

zum Entwurf für ein Kunstwerk am Eingang der Universitätsbibliothek Kiel

,Manche leuchten, wenn man sie liest' ist ein Zitat aus ‚Uns nährt die Erde' (Les Nourritures terrestres) von André Gide. 1897 erschienen, ist es ein frühes Werk des jungen Dichters. Es beschreibt einen Menschen, der sich an den Formen der Erde erfreut, an ihren Farben, an Abenteuern, an den tausendfältigen Möglichkeiten des Lebens. Eine Anleitung zum Glücklichsein beinhaltet auch die Aufforderung an den Schüler Nathanaël, sein erlerntes Wissen zu vergessen und die Bücher in sich zu vernichten. Im ‚Rondo' auf die Bücher allerdings singt er ihr Loblied.

Angebracht über dem Eingang der neuen Universitätsbibliothek verweist der Text auf das Lesen und auf die ‚Erleuchtung' durch Literatur. Er gibt den Benutzern bereits außen einen Hinweis auf das, was sie im Innern erwartet. Der Eingang benötigt das Wort, um die Tür zur Bibliothek zu öffnen.

Mit der Neonschrift entscheide ich mich für ein technologisches, ein modernes Material. ‚Manche leuchten, wenn man sie liest' leuchtet mit Einbruch der Dämmerung bis zum Ende der Öffnungszeiten weißgelb. Über Tag bilden die granitgrauen Buchstaben zur kieselgrauen Fassade einen Kontrast, der auf den Schwarz-Weisskontrast der benachbarten Architektur reagiert. Satz und Material gehen bei Tag und bei Nacht in einem reflexiven Bezug eine Art Zirkelschluss ein. Die Neonröhren, außen auf den Buchstaben angebracht, versprechen ein Leuchten, nicht nur wenn man sie liest. Sie leuchten, wenn sie leuchten und sie leuchten, wenn man sie liest. Aber sie leuchten auch, wenn man sie nicht liest. Der Satz ist zugleich vordergründig verständlich und vielschichtig genug, den nachdenklichen Leser zu begleiten. Er verweist auf das energetische Potenzial des Lesens. Das Licht im Innern der Bibliothek, sichtbar durch die großen, schrägen Glasfenster vor den Leseplätzen und Buchbereichen, erscheint jetzt wie ein Versprechen, auch außen am Eingang.

April 2002