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Manche leuchten, wenn man sie liest

André Gide, Les Nourritures terrestres 1897, dt. ‚Uns nährt die Erde', DVA 1930 in der Übersetzung von Hans Prinzhorn

Am 2. Mai 2002 entschied das Preisgericht der Kunstkommission des Landes Schleswig-Holstein über den beschränkten Wettbewerb "Kunst am Neubau der Universitätsbibliothek". Nach einer einstimmigen Entscheidung für ihren Entwurf "Manche leuchten, wenn man sie liest" wurde Elsbeth Arlt beauftragt, das Kunstwerk zu erstellen.

Biografie: Elsbeth Arlt

Jahr Ereignis
1948 Geburt in Kiel
1969 - 1971  Fachhochschule für Gestaltung in Kiel
1972 - 1977 Hochschule für Bildende Künste in Hamburg
seit 1974 Aufzeichnungen (tägliche Notationen in Wort und Bild)
seit 1978 Malerei
seit 1979 Bücher, Buchobjekte und Buchinszenierungen
1989 Föderpreis des Landes Schleswig-Holstein
1993 Casa Baldi Stipendium in Olevano Romano, Italien
2000 Kulturpreis der Stadt Kiel
2012 Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein
2015 Stirbt nach langer Krankheit in Flensburg

Erläuterung von Elsbeth Arlt

zum Entwurf für ein Kunstwerk am Eingang der Universitätsbibliothek Kiel

,Manche leuchten, wenn man sie liest' ist ein Zitat aus ‚Uns nährt die Erde' (Les Nourritures terrestres) von André Gide. 1897 erschienen, ist es ein frühes Werk des jungen Dichters. Es beschreibt einen Menschen, der sich an den Formen der Erde erfreut, an ihren Farben, an Abenteuern, an den tausendfältigen Möglichkeiten des Lebens. Eine Anleitung zum Glücklichsein beinhaltet auch die Aufforderung an den Schüler Nathanaël, sein erlerntes Wissen zu vergessen und die Bücher in sich zu vernichten. Im ‚Rondo' auf die Bücher allerdings singt er ihr Loblied.

Angebracht über dem Eingang der neuen Universitätsbibliothek verweist der Text auf das Lesen und auf die ‚Erleuchtung' durch Literatur. Er gibt den Benutzern bereits außen einen Hinweis auf das, was sie im Innern erwartet. Der Eingang benötigt das Wort, um die Tür zur Bibliothek zu öffnen.

Mit der Neonschrift entscheide ich mich für ein technologisches, ein modernes Material. ‚Manche leuchten, wenn man sie liest' leuchtet mit Einbruch der Dämmerung bis zum Ende der Öffnungszeiten weißgelb. Über Tag bilden die granitgrauen Buchstaben zur kieselgrauen Fassade einen Kontrast, der auf den Schwarz-Weisskontrast der benachbarten Architektur reagiert. Satz und Material gehen bei Tag und bei Nacht in einem reflexiven Bezug eine Art Zirkelschluss ein. Die Neonröhren, außen auf den Buchstaben angebracht, versprechen ein Leuchten, nicht nur wenn man sie liest. Sie leuchten, wenn sie leuchten und sie leuchten, wenn man sie liest. Aber sie leuchten auch, wenn man sie nicht liest. Der Satz ist zugleich vordergründig verständlich und vielschichtig genug, den nachdenklichen Leser zu begleiten. Er verweist auf das energetische Potenzial des Lesens. Das Licht im Innern der Bibliothek, sichtbar durch die großen, schrägen Glasfenster vor den Leseplätzen und Buchbereichen, erscheint jetzt wie ein Versprechen, auch außen am Eingang.

April 2002

Rondo

aus: André Gide, Les Nourritures terrestres, 1897

dt.: ‚Uns nährt die Erde' in der Übersetzung von Hans Prinzhorn, DVA 1930


Manche Bücher liest man auf kleinen Brettchen,
An einem Schulpult sitzend.

Manche Bücher liest man auf dem Marsche
(Auch wohl wegen ihres Formates).
Einige sind für den Wald, einige für andere Landschaften.
Et nobiscum rusticantur, sagt Cicero.
Manche las ich in Postkutschen,
Andere tief in Heuschober gekauert.
Manche sollen glauben machen, man habe eine Seele,
Andere sollen sie zur Verzweiflung bringen.
In manchen beweist man das Dasein Gottes,
In anderen bringt man das nicht zustande.

Manche kann man nirgends zulassen
Als in Privatbibliotheken,
Manche haben Lob und Annerkennung erhalten
Von vielen kritischen Autoritäten.

In manchen ist nur von Bienenzucht die Rede,
Was einige gar zu spezialistisch finden.
In anderen ist von der Natur dermaßen die Rede,
Daß es nachher nicht mehr lohnt, spazieren zu gehen.

Manche werden von gescheiten Leuten verachtet,
Aber regen die kleinen Kinder auf.

Manche nennt man Anthologien,
Darein druckt man alles Beste, was je über irgend etwas
gesagt worden ist.
Manche wollen euch das Leben lieben lehren,
Nach anderen beging der Autor Selbstmord.
Manche säen Haß
Und andere ernten, was sie säten.
Manche leuchten, wenn man sie liest ,
So erfüllt sind sie von Ekstase oder süßer Demut.
Manche liebt man wie reinere Brüder,
Die besser gelebt haben als man selbst.
Manche sind in seltsamer Schrift geschrieben,
Und man versteht nicht, auch wenn man sie eifrig studiert hat.
...

Manche sind keine drei Groschen wert,
Andere haben recht beträchtliche Preise.

Manche sprechen von Königen und Königinnen,
Andere von ärmsten Leuten.

Manche finden Worte, die sind süßer
Als das Rauschen der Blätter am Mittag.
Und Johannes auf Patmos hat gar ein Buch verschlungen
Wie eine Ratte; ich aber mag Himbeeren lieber.
Mit Bitternis belud sich daran sein Eingeweide,
Und danach hatte er viel Visionen.

 

Manche Leuchten am Tag
Die Zentralbibliothek in der Leibnizstraße 9 am TagFoto: Jürgen Haacks / Uni Kiel

 

Manche Leuchten in der Nacht
Die Zentralbibliothek in der Leibnizstraße während der blauen StundeFoto: Jürgen Haacks / Uni Kiel